5 Das Besondere der ästhetischen Erfahrung

Mit Kreativität und ästhetischen Erfahrungen, Kenntnis über das Leben, die Familie und die Gesellschaft zu gewinnen, statt mit analytisch gewonnen Wissen, scheint immer mehr Bedeutung für die soziale Arbeit zu bekommen.
Worin liegt das Besondere ?
Erleben und Erleiden bedeutet mehr als mentale Verarbeitung. Es geht darin zunächst nicht um Kunst bzw. kunstpädagogische Ansätze an sich, sondern um noch vorkünstlerische, gleichwohl schon gestaltbildende Verarbeitungsprozesse, die einem ganzheitlichen (sinnlich - körperlichen - psychischen und geistigen) Erleben nahe bleiben, ohne bewußtlos darin unterzugehen.
Doch merkwürdigerweise sprechen gerade die ästhetischen Erzieher häufig nur vom Wahrnehmen-Lernen, ja sogar noch einschränkender vom Sehen-Lernen.
Worin liegt der Mangel einer solchen Sicht auf ästhetische Erfahrung. Man kann dazu auf das Verständnis des Empfindens zurückgreifen, das Erwin Strauß (Strauß, Vom Sinn der Sinne, Berlin, Heidelberg, New York,1978) in den dreißiger Jahren entwickelt hat, in dem er das Empfinden als ein Erleben, das in sich den Charakter der Wandlung hat, dem Spüren gleichsetzt.
Spüren aber ist ein doppelsinniges Wort es bedeutet sowohl ein Aufsuchen mehr ein Hinnehmen. Vor allem sei Empfinden unmittelbares, nicht begriffliches Mitleben. Keine Frage, daß dieses Mitleben ein Grund aller lebendiger Erfahrungen sein muß. Der Verzicht auf unmittelbares Erleben würde bedeuten, das gerade jenes Bedürfnis und Vermögen aus dem Erfahrungs- und Bewußtswerdungsprozeß ausgeklammert würde.
Wo man nicht bei der Geschichte des Sich-Fühlens, Spüren und Beteiligt sein beginnt, wird die ältere der beiden Wurzeln der Erfahrung abgeschnitten.
Schon Marx stellte fest: Sinnlich sein ist leidend sein. Der Mensch als ein gegenständliches, sinnliches Wesen ist daher ein leidendes und, weil sein leiden Leid empfindendes Wesen, ein leidenschaftliches Wesen. Die Leidenschaft, die Passion ist die nach seinem Gegenstand energisch strebende Wesenskraft des Menschen .( K.Marx, Pariser Manuskripte,1844 )
„Sinnlich sein“ kann vom Leidenschaftlichen der Ganzheit des Empfindens nicht getrennt, das Empfinden kann nicht in einem bloß positivistischen Verständnis auf die Empfindung eines Reizes zum Beispiel der Rezeptoren der Haut durch Druck- oder Temperaturunterschiede verkürzt werden. Es bleibt über alle Sinnespsychologie hinaus ein Angerührt- oder Berührtsein, das unmittelbare Gefühlsreaktionen hervorruft. Empfinden ist fühlendes , beteiligtes Mitgehen, Leiden oder Glück eines Dabeiseins in spezifisch subjektiver Färbung und Qualität.
Man spürt vielleicht etwas, das man noch nicht deutlich wahrnehmen kann oder das sich sogar wieder verflüchtigt, sobald die Wahrnehmung einsetzt. Dieses Spüren bleibt anderen Schichten des Bewußtseins verbunden als ein weniger unmittelbar beteiligtes Wahrnehmen. Es sind aber auch Übergänge oder Wechselschritte von Beteiligtsein und Distanz, Ahnung und Kontrolle, Empfinden und Wahrnehmen denkbar. Empfinden bedeutet ein Aufgehobensein in der Gewißheit der eigenen Sinnlichkeit gegenüber der Welt. Der Akt der Wahrnehmung unterscheidet sich davon, in dem er identifiziert, benennt, vergleicht und schon dem Erkennen näher als den unmittelbar Erleben verbunden ist.
Die Wahrnehmung gehört der denkenden Erkenntnis stets als ein Teilmoment an. In dieser Funktion ist Wahrnehmen das andere Element der Erfahrung.
Empfinden und Wahrnehmen sind weder dasselbe, noch muß ein Empfinden der Wahrnehmung vorausgehen, denn Empfindungserlebnisse sind nicht die„Rohdaten“ von Wahrnehmung - Empfindungen haben ist nicht alles, was gegeben ist, wenn Wahrnehmung zustande kommt. Was aber, wenn beide Vorgänge von einem Entwurf bewußt in Anspruch genommen würden? Dann wäre eine Durchdringung von Prozessen denkbar, die einerseits dem sinnlichen Erleben, andererseits dem wahrnehmenden Erkennen verbunden bliebe, in einer für die Wahrnehmungsfähigkeit vermutlich hilfreichen Durchmischung . Bewußtsein würde so verstanden nicht über eine Stufenleiter vom Empfinden, über das Wahrnehmen zum Denken aufgebaut, sondern sich in der Gleichzeitigkeit und Gemeinsamkeit des Getrennten bilden. Bewußtsein würde sich nicht nur als reflektierende Instanz der auf verarbeitende Wahrnehmung gegründeten begrifflichen Denken verstehen, sondern dem anderen Strang der leiblichen Gegenwart der Sinne, dem Empfinden als dem nicht begrifflichen „Mit - Leben“ verbunden bleiben. Das leidenschaftliche Erleben ist noch nicht die Erfahrung.
Erleben, Empfinden und Wahrnehmen in ihren unmittelbaren Vollzügen sind Voraussetzungen der Erfahrungen (aber nicht die Erfahrung selbst).
Diese bildet sich in Verarbeitungsprozesse, in denen sich Momente körperlicher - sinnlicher, psychischer und geistiger Bewegtheit verbinden und gleichzeitig über den flüchtigen Augenblick hinaus in ein Bewußtsein aufgenommen werden, das sich seiner selbst gewiß wird.
Ein solcher Verarbeitungsprozeß bedarf der Wiederholung bestimmter Erlebnisse und Wahrnehmungsakte, er bedarf der Erinnerung an Vorausgegangenes und ist damit ein Prozeß der gelebten Zeit.
Ohne Zeit des Verarbeitens, nur im Genuß und Gefühl des Augenblicks, gelingt keine Erfahrung, sie kann schlicht versäumt werden.
Das Besondere an der ästhetischen Erfahrung ist der umfassende Charakter in Einbezug aller Empfindungsfähigkeit und Wahrnehmungsfähigkeit. Sie kann auch nicht nur im Bereich der ästhetischen Bildung der Schulen allein geleistet werden.
Im Prozeß der ästhetischen Erfahrung erscheinen die historischen Trennungen von Körper und Geist, Triebgeschichte und Bewußtsein, Sinnlichkeit und Verstand noch nicht unaufhebbar vollzogen. Das Besondere der ästhetischen Erfahrungen besteht gerade im Verbinden des Getrennten. Gefühl und Verstand treffen nicht als antagonistische Kräfte aufeinander, sie werden vielmehr in ihrer Gleichzeitigkeit und Gleichrangigkeit des Bewußtseins interpretiert und rehabilitiert.
Die Anstrengung des Mit-Lebens und Spürens entspricht darin der Anstrengung des Wahrnehmens und Reflektierens. Vorstellbar wäre eine
„Aufbaugeschichte“ ästhetischer Erfahrung, in der zunächst im Empfinden des unmittelbaren Augenblicks subjektiv gelebten Daseins in der Welt gesucht und sinnlich gegenwärtig wird. Im Schritt zum aufmerksamen Wahrnehmen beginnt das Erkennen eines Objektes außerhalb des unmittelbaren Erlebens (wobei das Objekt auch ein Erleben sein kann). Dabei wird ein Bewußtsein aufgebaut, das sich nicht gegen das sinnliche Erleben abschottet, aber es doch zugleich kritisieren kann. Dieses Bewußtsein würde sich nicht auf isoliertes Erleben oder frühzeitig im Begriff geronnene Erfahrung berufen, sondern übergreifende, offene Formen der Konkretisierung suchen. Dazu wäre das Arbeitsziel: Gestalten - das sich eben nicht auf formloses Fühlen oder Erleben oder vereinbarte, vorfindliche Denkstrukturen bezieht - außerordentlich nützlich.
Malen, Zeichnen und Gestalten heißt ja nicht nur Klären, Festlegen und Formen, sondern immer wieder auch Verwandeln, Auflösen und neu Beginnen.
Gestalten ist ein Weg der ästhetischen Verarbeitung des Erlebens auf der Ebene wahrnehmbarer Formen, zu Repräsentanzen des Erfahrenen, zu einen wiederum erfahrbaren Ausdruck werden.
Die sinnliche Gewißheit des Empfindens im Erleben und die distanzierende Wahrnehmungsfähigkeit kommen in Gestalt immer wieder neu zusammen. In einem solchen Verarbeitungsprozess ästhetischer Erfahrungen könnte der Diskurs der Gefühle mit den Daten der Wahrnehmung beginnen und weitergeführt werden. Dieser Diskurs setzt Gleichzeitigkeit und Gleichrangigkeit des Wahrnehmens voraus. (Vergl. Selle, 1988 S.26 ff)
Wahrnehmen und Empfinden in der schöpferischen Arbeit scheint mir eine sinnvolle Erweiterung außerschulischer bzw. schulbegleitender Kinder- und Jugendsozialarbeit zu sein. Es ist vor allem der bewertungsfreie und nicht auf Materialien beschränkte Erfahrungsraum der eröffnet werden soll und für das Heranwachsen in sinnlicher emotionaler Hinsicht dringend notwendig erscheint..

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